Eine wahre Kriminalgeschichte
Es war mittwegs auf meines Lebens Reise, vor drei Jahrzehnten in Hamburg, wo ich aus und ein ging bei einem Junkie, der seinen Drogenbedarf mit Dealen und Diebstählen finanzierte. Er war vom selben Jahrgang wie meine Mutter und von unklaren Herkunftsverhältnissen, über die er verschiedene Versionen in Umlauf brachte, die er mit gleichlautender Überzeugtheit vorbrachte, und, wenn ich ihn auf Widersprüche hinwies, diese meiner Unaufmerksamkeit oder vorübergehenden Geistesschwäche zuschrieb.
Er hatte in New York um Geld Schach gespielt und wies mich, obwohl selbst kein unerfahrener Spieler, in die Schachkunst ein. Um mich nicht völlig zu entmutigen, ließ er eine unserer Partien Remis enden. Das Endspiel war quälend lang. Ich liebe es, wenn das Brett fast leer ist und nur noch wenige Figuren umso mehr Möglichkeiten haben. Wenn die Winkel immer enger werden, obwohl doch scheinbar viel Platz ist. Spieler, denen es um das Ergebnis geht, geben in solchen Situationen auf. Ich lasse die Figuren gern kreuz und quer durch die leeren Räume ziehen.
Der Nachbar dieses Mannes war ein Totschläger. Fünf Jahre, wenn ich es richtig erinnere, hatte er im Gefängnis gesessen. Er war auf keine Weise auffällig, wenn er sich nicht bewegte oder man ihm ins Gesicht sah. Fremden fiel es schwer, die Aura von Gewalt zu benennen, die ihn umgab.
Ich habe meine erste Begegnung mit ihm vergessen, weiß aber noch genau, wie alles Leben im Raum erstarb, alle Stimmen schwiegen oder immerhin ins Flüstern versanken, alle Bewegungen erstarrten, wie sogar der Fernseher leiser und dunkler zu werden schien, wenn der Totschläger den Raum betrat.
Ich weiß seinen Namen nicht mehr, weil ich ihn in Gedanken und nach einer Weile auch, wenn ich ihn in seiner Abwesenheit erwähnte, nur den Totschläger nannte.
Eigentlich war er ein Mörder, aber vor Gericht hatte man das anscheinend nicht erkannt. Gewiss, ich war nicht im Prozess und kann mich nur auf die Darstellung des Verurteilten selbst stützen. Aber sie passte zu allem Übrigen, so dass ich den Namen Totschläger ironisch auffasste.
Er war inzwischen Anfang 20, fünf Jahre nach Jugendrecht für Totschlag also. Und das war geschehen: Ein Türke hatte sich an seine Schwester »herangemacht«. Was die beiden präzise miteinander hatten, erklärte er nie.
Auf Nachfragen zu diesem Punkt reagierte er empfindlich. Wenn der Totschläger ärgerlich wurde, brannte die Luft. Dann schwieg man besser; man wünschte sich, unsichtbar zu sein, in der Hoffnung, der Hai werde weiterschwimmen.
Mit meinem elaborierten Duktus hatte der Totschläger Probleme. Ich konnte ihm mit unverschämtem Lächeln Sachen ins Gesicht sagen, die andere Blut gekostet hätten, weil er mich schlicht nicht verstand und meine gelassene Körpersprache ihm suggerierte, ich hätte nicht wie alle anderen Angst vor ihm. Von denen, die meine Scheingefechte mit ihm beobachteten, wurde ich nachher stets gescholten; sie hatten unterdessen Blut geschwitzt.
Mehr noch als den Totschläger hasste ich die Atmosphäre im Raum, die er erzeugen konnte. Tatsächlich, hieß es später, sei ihm meine Gesellschaft unangenehm gewesen.
Ich nehme an, der Türke hatte Geschlechtsverkehr mit der Schwester des Totschlägers; schließlich war es das Grauen davor, die ihn zu seiner Tat veranlasst hatte. Für ihn war es Rassenschande, und er duldete nicht die Erwähnung, nicht einmal die Vorstellung in seiner Nähe.
Als er es sich hatte vorstellen müssen, hatte ihn sogleich die Vernichtungsfantasie überkommen. Er erschlug den anderen nicht einfach, als er ihn bei der Schwester erwischte. Seine Ausstrahlung von Gewalt gewann auch Macht über seine Schwester, die von ihm angewiesen wurde, den Geliebten in den Stadtpark zu locken.
Also kommt, juristisch gesprochen, zu den niederen Beweggründen des Rassenwahns noch Heimtücke hinzu. Ich bezweifle, dass der Totschläger sich für diese gleichbleibende Geschichte, die er jedem Neuankömmling in der Nachbarwohnung zum Besten gab, zwei Mordmerkmale hätte ausdenken können.
Wahrscheinlich hat sich die Schwester vor Gericht auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Aber für den Rassenhass wird es doch noch andere Zeugen gegeben haben? Jedenfalls war der Türke am Ende tot, und der Totschläger ging für begrenzte Zeit hinter Gitter. (*)
Dort war er der König, sagte er. Ich glaube zu erinnern, dass er wirklich Worte wie »König« dafür gebrauchte, wenn er beim Schwärmen den Siedepunkt erreicht hatte. Beim Lobpreisen von Santa Fu.
Ich hörte irgendwann nicht mehr zu, wenn er den Knastalltag beschrieb als ein stetes Organisieren, Improvisieren, Provozieren. Er gab sich als Macher aus, als jemand, der überall mitmischte. Wenn man ihn erzählen hörte, wurde der Knast zu einer besonderen Ecke der Speicherstadt, der er architektonisch allerdings ähnelt, mit geschäftigem Getriebe wie zur Weihnachtszeit.
Die Augen des Totschlägers weiteten sich wie im Rausch und glänzten wie von Tränen, wenn er vom Knast erzählte. Der junge Mann hatte verzehrende Sehnsucht danach.
Ich würde die Geschichte nicht erzählen, wenn sie nicht wahr wäre. Sie zu konstruieren wäre läppisch. Als wäre die Wirklichkeit wie ein Diagramm gebaut. Bisweilen aber gibt es solche Episoden, in denen sich Linien schneiden wie in einem abstrakten Tafelbild oder sich Figuren bilden wie auf einem Notenblatt.
Und sie rechtfertigen in gewisser Weise durch ihre Wirklichkeit die Konstruktion von Geschichten als Möglichkeit der Abkürzung dessen, was ich, wollte ich diese Episode in ihrer ganzen Schrecklichkeit wirksam machen, allenfalls in Romanlänge erreichen könnte, in einer Zeitlupenaufnahme, für deren Authentizität ich mich dann allerdings nicht mehr verbürgen könnte, weil meine Erinnerung nicht mehr so detailgetreu ist wie vonnöten wäre.
Seine Sehnsucht ließ den Totschläger sichtlich rastloser werden. Er organisierte weiter wie er es im Knast gelernt und es ihm zur Erleuchtung geworden war. Er befehligte eine Bande von Minderjährigen, Jungs um die 13, die er zu Diebereien anhielt.
Ich vermied es, genauer hinzusehen, und seine distanzierte Haltung mir gegenüber erleichterte es, ihn meinen Unwillen spüren zu lassen. Er gab es rasch auf, in meiner Gegenwart davon zu sprechen. Ich erfuhr von keiner geplanten Straftat so viel, um es der Polizei anzeigen zu müssen.
Einmal traf ich einen der Jungs vor der Tür des Totschlägers. Er hatte Beute dabei und wollte sie abliefern. Ich versuchte, ihn zu verscheuchen. Aber er hatte zu viel Angst vor dem Totschläger.
Der konnte es schließlich nicht mehr erwarten heimzukommen. Ich hörte, er habe seine eigene Bande bei der Polizei verpfiffen. Aber die Behörden reagierten nicht wunschgemäß. Sie kümmerten sich wohl um die Jungs, von denen ich nie wieder einen sah, aber sie ließen den Totschläger in Freiheit. Ich bin sicher, bei seinen Verhören hat er geradezu darum gebettelt, inhaftiert zu werden.
Eines Abends erschien er so abrupt wie immer stimmungstötend im Zimmer. Er strahlte über das ganze Gesicht. Er sprach nicht von Abschied, aber das sollte es bedeuten.
Er warnte uns, wir sollten nicht erschrecken, wenn gleich die Polizei vor dem Haus erschiene. Jetzt endlich würden sie ihn holen.
Er horchte in die Nacht hinaus. Das Zimmer lag im Erdgeschoss, und man würde aus den großen Fenstern das vibrierende Blaulicht erkennen können.
Es ging heim für den Totschläger. Er hatte einen seiner Jungs krankenhausreif geprügelt.
(*)
Als ich diese Erzählung aus gegebenem Anlass hervorkrame, der eine eigene Geschichte wäre, wird mir erst klar, dass die Episode mit anderen in Zusammenhang steht, die ich auf diesem Blog geschildert habe. In dieselbe Zeit fallen die → Hamburger »Türkenmorde« durch Neonazis; einen → Prozess besuchte ich.
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Siehe auch → Pitavalgeschichten. Eine Übersicht des Genres »Wahre Kriminalgeschichten« oder »True Crime« und → Kriminalgeschichten
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