Hörstücke zu Raymond Roussel

Unter den grotesken Geschichten, die Raymond Roussel erzählt, ist die von den Emerauds in Locus Solus die absurdeste. Weit hergeholt und traumhaft verwickelt sind alle seine Maschinen und ihre Legenden, aber sie sind in sich logisch. Auch dass die Insekten aus Schottland so flach sind, dass sie in das Innere einer präparierten Tarot-Karte passen, ist außergewöhnlich, aber so wenig undenkbar wie dass es einem Mechaniker gelingen könnte, die Beinchen der Emerauds mit einem Gestänge zu verbinden, das ebenfalls in der Karte Platz hat.

Wissenschaft und Technik sind in der Fantasie von Roussel noch allmächtiger als bei dem von ihm bewunderten Jules Verne. Dieser wird heute dafür gerühmt, dass er tatsächliche Erfindungen vorausgedacht hat, das U-Boot und die Mondrakete, als sei es ihm um Science-fiction gegangen. Vielmehr hat Verne (Karl May nicht unähnlich) Reisen in Länder beschrieben, die er nie besucht hat, und bei denen er reale wie fantastische Transportmittel zum Einsatz kommen lässt. Mit der Präkognition, die ihm zugeschrieben wird, hat das nichts zu tun. Die Nautilus ist das ideale Gefährt für den misanthropen Nemo und bedeutet nichts von dem, was in der Realität später als U-Boot in Erscheinung tritt. Die Nautilus ist eine Seelenmaschine.

Raymond Roussel (Zeichnungen: urian)

Die paar Einfälle in Vernes rund 100 Büchern, die später von Wissenschaft und Technik realisiert wurden, überdecken, dass er ebenso literarisch vorgegangen ist wie nach ihm Roussel und seine Wortwelten gleichermaßen locker mit etwelchen Tatsachen verbunden sind. So verweist der stählerne Elefant, der unter Dampf den Dschungel durchpflügt, auf nichts voraus und demonstriert vielmehr, wie Vernes Erfindungen weitaus weniger von Wissenschaft und Technik inspiriert sind, sondern von einer kolonialistischen Kulturanthropologie.

Läse man Roussel wie Verne, würden sich allerhand Beispiele finden, in denen die Fantasie dieses Autors auf Verhältnisse verweist, die ebenso wenig utopisch sind wie die Einbildungen Vernes es sein sollen, als vielmehr zeitlos. Roussel, der sich nicht nur über Jahre in psychiatrischer Behandlung befand, sondern von seinem Arzt Pierre Janet als Musterbeispiel in einem Buch dargestellt wurde, hat Maschinen erfunden, die psychische Vorgänge nicht so sehr abbilden, als sich mit ihnen verbinden. Maschinen, in die die Menschen nicht eingespannt sind, sondern die sich mit ihnen verknüpfen wie bei den biomechanischen Apparaturen, die heute in den Labors entwickelt werden. Sigmund Freud sprach vom »psychischen Apparat« und verglich dessen Bau mit einem ausschiebbaren Teleskop. Roussels Werk ist voller solcher Apparaturen, die in der Außenwelt der Worte vorführen, was in der Innenwelt des Autors vorgeht.

Raymond Roussel (Zeichnungen: urian)

Winzige flache Insekten in der Tarot-Karte, die Musik machen, sind sonderbar, aber nicht vollkommen unvorstellbar. Unlängst saß ich bei meinem Freund, der mit dem Computer Musik machte, ohne musikalische Ausbildung, ohne Instrument, sondern indem er am Monitor grafische Übersetzungen der Klänge montierte, von denen das Gerät eine scheinbar unbegrenzte Zahl an Kombinationen zur Verfügung stellte, die immer irgendwie passten. So ähnlich kann man sich die Emerauds in ihrem Gestänge vorstellen, die mit ihrem Gezappel Klänge erzeugen. Was Roussel als mechanische Abstimmung darstellen musste, weil die Elektronik noch nicht in der Welt war, erscheint heute weniger abwegig als zum Erscheinen von Locus Solus vor 100 Jahren oder mir noch, als ich das Buch 1977 erstmals las. Es wäre lohnend, Roussels Werk wie das Vernes unter dem Aspekt der Präkognition zu interpretieren.

Raymond Roussel (Zeichnungen: urian)

Absurd wird die Geschichte der Emerauds an der Stelle, an der sie zum Höhepunkt kommt, indem die Insekten einen über ihnen schwebenden grünen Lichtring produzieren, dessen Rotation imstande ist, Haut zu durchdringen. Was Roussel noch technisch wie naturwissenschaftlich utopisch vorgekommen sein musste, erscheint heute weniger fantastisch. Es ginge also noch an, dass die Insekten rotierendes Laserlicht ausstrahlen. Aber sie tun dies nicht willkürlich oder wie nebenbei als Teil ihrer natürlichen Ausstattung. Sondern es soll ein Ausdruck ihrer Gefühle sein.

Das Licht entsteht, wenn die Emerauds beim Zappeln in ihrem musikalischen Gestänge das Lied wiederholen, das sie an dem Ort vernommen haben, von dem sie in die Tarot-Karte verpflanzt worden waren. Die Insekten spielen »The Blue-Bells of Scotland« und artikulieren damit ihr Heimweh.

Raymond Roussel (Zeichnungen: urian)

Seit geraumer Zeit werde ich in den Medien mit dem Aussterben der Insekten bekannt gemacht, und eine Welle der Empathie ergießt sich über die Vielbeiner, die ich bis dahin kaum bei Buddhisten angenommen hätte. Einige Jahre zuvor noch wurde der Verzehr von Insekten als kulinarische Spezialität angepriesen. Veganer würden dagegen protestieren. Jene, von denen ich zum Schutz der Insekten vor mir selbst aufgefordert werde, machen längst keine Unterschiede mehr zwischen vom Aussterben bedrohter Arten und Katzen, zwischen Kühen und Fliegen. Alles Mitgeschöpfe und mindestens der gleichen Aufmerksamkeit wert wie die Mitmenschen. Ist es meiner Beschränkung geschuldet, dass ich die Geschichte der Emerauds absurd nenne, weil sie in einem Heimweh der Insekten gipfelt, und war Roussel in diesem Punkt so vorausschauend wie Verne?

Die Emerauds in der Tarot-Karte habe ich zum Leitmotiv eines Essays über Roussel genommen, den ich 1989 schrieb und viel später in eine Fassung für den Hörfunk umarbeitete, für die sich kein Abnehmer bei den paar öffentlich-rechtlichen Anstalten fand. Inzwischen sind die 2006 produzierten Hörstücke als Video bei YouTube eingestellt.

Siehe auch auf diesem Blog:

No. 224. Raymond Roussels Tod auf Reisen
Blinder Passagier. Warum Roussel das Wohnmobil erfand
Recherche à Roussel