Warum der Schriftsteller Raymond Roussel das Wohnmobil erfand

Fahrbares Landhaus 1922
Fahrbares Landhaus mit Wohnraum, Küche und drei Schlafzimmern, 1922

Als Trutzburg der Spießigkeit gilt der Wohnwagen, und ein Blick in Fachzeitschriften für Motor-Camper bestätigt es. Millionen Bürger verbringen ihren Urlaub im Rolling Home. Populär wurde das Haus auf Rädern in den 1950ern und 1960ern, als Symbol des Wiederaufstiegs der Deutschen. Im Campingmobil fuhren sie als Besucher an jene Orte in Europa, die ihre Eltern als Besatzer im Panzer gesehen hatten.

Wohnwagen
Wohnwagen 1960er

Trotz profanen Anscheins ist der Wohnwagen eine poetische Erfindung. Der Pionier dieser Grenzform des Reisens ist auch ein Grenzfall der Literaturgeschichte, ein Autoren-Autor und Studienobjekt für Ästhetiker. André Breton, Salvador Dalí, Marcel Duchamp und Michel Foucault, Surrealismus und Strukturalismus beriefen sich auf ihn. Raymond Roussel, 1877 als Millionär geboren, war der erste, der auf die Idee kam, Wohnung und Auto zu montieren, und damit, ohne den Ort zu wechseln, eine restlos senti-mentale Rundfahrt zu unternehmen.

Roussel war ein exzessiver Tourist. »Namentlich in den Jahren 1920 bis 1921 habe ich eine Weltreise durch Indien, Australien, Neuseeland, die Archipele des Stillen Ozeans, China, Japan und Amerika unternommen. Ich kannte damals bereits die wichtigsten Länder Europas, Ägypten und ganz Nordafrika, und später habe ich Konstantinopel, Kleinasien und Persien besucht.«

Bis zu ihrem Tod 1911 unterrichtete die Mutter ihn im Reisen der Reichen. Auf einer Schiffskreuzfahrt hatte sie ihren Sarg dabei, mit Sichtfenster, damit ihr Sohn sie sehen könnte, bis Erde ihr Gesicht bedeckte. Raymond ging nur nachts an Deck, um die Sterne zu betrachten. Ansonsten las er in der Kabine Jules Verne. Die Reise zum Mittelpunkt der Erde war sein liebstes Buch.

Raymond Roussel
Raymond Roussel

Er kreiste um die Welt wie andere um den Park joggen, blicklos, mit sich selbst und den Körpergeräuschen, der Arbeit der Organe beschäftigt. Er war kein Globetrotter, den Neugier in die Fremde lockt. Im Gegenteil: »Alles Neue quält mich.«

Die winzigste Veränderung seiner täglichen Gewohnheiten, das geringste unerwartete Ereignis ängstigte ihn. Schmutz peinigte, Verschleiß ekelte ihn; ein Hemd trug er höchstens zwei Mal, einen Anzug 15 Mal.

Unterwegs unterbrach er nicht seine Gewohnheiten, sondern warf ihr engmaschiges Netz über den Globus. Er machte die ganze Erde zum Feld seiner Zwänge und Selbstreglementierungen.

Sein Tourismus tilgte den Gegensatz von Nah und Fern. Wohin er kam, sah er Längstbekanntes. Die Erde: ein Dorf, von dem er nicht mehr wahrnahm, als der Baedeker vorschrieb.

Durch Bücher, Theaterkulissen und Fotografie fühlte er sich orientiert und hörte allenthalben nur Echos. Reisen war für ihn ein permanentes Déjà-vu: Überall sah er sich selbst ins Gesicht.

Nur das Erwartete wurde erfahren. In Peking machte er eine Sightseeing-Tour, um bis zur Abfahrt schreibend im Hotelzimmer zu verbringen. Auf der Landkarte war die Station abgehakt.

Roussel reiste leer, fuhr ab ohne fortzufahren, war angekommen, bevor er eintraf. Er kreiste in der rundum verspiegelten Kapsel eines ein für allemal festgelegten Weltbildes, auf Schneckenstraßen, die ihn zu dem führten, als den er sich selbst sehen wollte.

Sein Schlüsselerlebnis hatte er mit 19. Beim Schreiben spürte er einen »Stern auf der Stirn«: das Strahlen seines Ruhmes, der sich unaufhaltsam über die ganze Welt verbreiten würde.

Die absolute Grenze seiner Umtriebigkeit waren Orte, an denen er in seiner Kindheit glücklich gewesen war. Nicht einmal mit dem Zug durchfahren mochte er sie. Leichteste Berührung hätte die Mumien der Erinnerung zerstört.

Der Erfahrene versah das Schneckenhaus mit Rädern. Auf seiner Weltreise hatte Roussel so oft seinen Koffer ein- und ausgepackt, dass ihm vor jeglicher Art von Gepäck graute; der bloße Anblick war ihm unangenehm.

Also ließ er sich ein Wohnauto bauen und begab sich darin nach Italien. Das Car-Roussel war schwarz und schmal wie ein Sarg, neun Meter lang und zweieinhalb breit. Es barg einen Salon mit Schrankbett und Heizung, ein kombiniertes Ess- und Wohnzimmer, Badezimmer mit Toilette und schließlich einen Aufenthalts- und Ruheraum für Chauffeur, Hausmädchen und Butler. Während der Fahrt blieben die Vorhänge zu. Roussel las, wie Jules Verne den Kosmos kolonialisiert, oder schrieb.

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Das Innere des AutoCarRoussel

»Paris – Rom und zurück über die Schweiz und den Mont Cenis, ohne einen einzigen Tag die eigene Behausung zu verlassen – diesen seltsamen Rekord hat soeben Monsieur Raymond Roussel in seinem Wohnauto aufgestellt«, meldete eine Zeitung am 13. Dezember 1926. »Duce« Mussolini und der Papst empfingen den Bruder der Herzogin von Elchingen, um mit ihm »diese sonderbare Art von Tourismus« zu erörtern. In seiner Gazette nahm der Touring Club de France den prominenten Automobilisten für sich in Anspruch.

Im abgedunkelten Wohnmobil die Erde umkreisend, machte Roussel sich zum Gefährten des Kapitän Nemo, der mit der Menschheit brach und die Abgeschiedenheit 20.000 Meilen unter dem Meer suchte. In der Dunkelkammer seiner »Nautilus« fuhr Roussel wie ehedem die Mutter mit dem Sarg seinen Tod spazieren.

Die Atmosphäre im Hausgefährt war so künstlich wie im U-Boot. Das passende Gefährt für den Mann, den Jean Cocteau in einer Drogenentzugsklinik beobachtete: »Roussel, krank […], lebt in der Thermosflasche. Er stimmt mit nichts in der Außentemperatur überein.«

In der Abdichtung gegen das Bestürzende am Anderen, das unberechenbar Neue, in der umstandslosen Anverwandlung des Fremden ist Roussel ein Urbild des Pauschaltouristen, der die ausgetretenen Pfade und immergleichen Betonfestungen an den Stränden der Tourismus-Hochburgen nicht verlässt.

Raymond Roussel (Zeichnungen: urian)
Taucher in der Thermosflasche

Eindrücke aus Afrika oder In Havanna heißen Roussels Bücher. Was wie Reiseberichte klingt, sind Geschichten aus dem Innern, den Innereien der Sprache, Berichte vom »einsamen Ort« Locus Solus, ein anderer Buchtitel. Im Unterschied zu Karl May, der das Amerika, in dem seine Romane spielen, nie sah, war Roussel in Afrika; wahrgenommen hat er es nicht.

Seine Bücher sollten nicht die Reisen schildern, sondern was von ihnen übrigblieb: die winzige Ansichtskarte in der gläsernen Kappe eines Kugelschreibers; der Kopf eines Hotel-Briefbogens; die winzigen Fotografien in den Röhren eines Opernglases in Anhängerform, die die Basare von Kairo und einen Kai in Luxor zeigen.

Das Souvenir ist die Schleimspur der Schnecke daheim. Ein Überrest von Orten, die gesucht, aber nie wirklich besucht werden können, weil sie die längste Zeit in der Einbildung bestehen. Der Fernwehnippes gehorcht dem kindlichen Impuls der Verkleinerung: die Welt in die Tasche stecken.

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In seinen Werken folgte Roussel einer Methode, die eine erzählende oder beschreibende Verbindung zwischen zwei klanggleichen oder -ähnlichen Worten oder Sätzen herstellte. Die rue de Rivoli in Paris lag für ihn nur einen Zungenschlag entfernt von der gleichnamigen Straße auf Tahiti.

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Die Briefe des Weißen über die Banden des Plünderers: Ursprungssatz in Roussels Unter Schwarzen

Roussel starb unterwegs, in einem Hotelzimmer, in der Nacht zum 14. Juli 1933, unter rätselhaften Umständen. Inzwischen war sein Vermögen verbraucht. Er war des Schreibens müde und erfand Lösungen für Endspielkombinationen im Schach.

»Er tritt die Reise im Automobil an und verzichtet auf seinen bequemen Wohnwagen«, vermerkte Leonardo Sciascia in einem Essay über Roussels letzte 14 Tage in Palermo. In der Nacht vor der Abfahrt in eine Schweizer Klinik starb der als Autor nahezu Unbekannte durch eine Überdosis Barbiturate.

Suizid oder Unfall? Einige Exegeten berechneten aus Wortspielen, dass Roussel nicht anders konnte, als Palermo am französischen Nationalfeiertag für einen Freitod zu wahlen. Aber nahm er die Droge wirklich selbst oder wurde sie ihm verabreicht?

Sciascia, der die Polizeiakten auswertete, spekulierte auf Mord. 23 Jahre lang begleitete die drei Jahre jüngere Charlotte Dufrène den in sich selbst kreisenden Roussel als Gouvernante. Zuletzt notierte und kontrollierte sie seine Drogendosen und meldete ihn der Klinik an. Sciascia zufolge hätten sich Charlotte und der Chauffeur gegen Roussel verschworen.

Raymond Roussel, Locus Solus (Zeichnung: urian)
Kristall in Locus Solus

Literatur

J. Cocteau: Über R. R., in: R. R., In Havanna, Frankfurt/M.-Paris 1982 | H. Grössel (Hg.): R. R., München 1977 | M. Leiris: Der Reisende und sein Schatten, in: R. R., In Havanna | U. R.: Blinder Passagier, R. R. als Reisender, Spuren 13, Hamburg 1985; Blinder Passagier, R. R. – Prototyp des Pauschalreisenden, die tageszeitung 8.4.1989; »Diese sonderbare Art von Tourismus«, Warum der Millionär R. R. das Wohnmobil erfand, Frankfurter Rundschau 2.4.1994; N°224. R. R.s Tod auf Reisen, in: Hotelzimmer, Archive des Alltags 5, Dortmund 1996 | L. Sciascia: Akten betreffend den Tod des R. R., in: Literaturmagazin 20, Reinbek 1987

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Siehe auch auf diesem Blog über Raymond Roussels Tod auf Reisen
Recherche à Roussel
und auf YouTube Hörstücke zu Raymond Roussel: → Das Heimweh der Insekten