Der Architekt zeichnete sich beim Wiederaufbau von Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg aus
Was ein Computer ist, wussten nur Fachleute, als die Firma International Business Machines ihr deutsches Hauptquartier in Hamburg in Auftrag gab. IBM produzierte Großrechner und elektrische Schreibmaschinen; der Personal Computer existierte nicht einmal als Idee. Datenverarbeitung bedeutete, rechteckige Kartonscheiben, in die Codes als Löcher gestanzt waren, elektromechanisch auszulesen. Das 1890 erstmals eingesetzte Verfahren war nach seinem Erfinder Herman Hollerith benannt.

Die Hollerith-Lochkarte diente Werner Kallmorgen als Vorlage für die Fassade des 17-stöckigen Hochhauses, das sich seit 1967 an der heutigen Willy-Brandt-Straße erhebt. Die Herausforderung bestand darin, „Großes klein und Schweres leicht erscheinen zu lassen“, erklärte ein Kollege Kallmorgens 1969, die „Fassaden von der Schwere des verwendeten Baumaterials zu befreien und eine Architektur der Transparenz zu finden“. Nach dem Auszug von IBM bezog das Magazin Der Spiegel den Turm, der heute „Kallmorgen Tower“ heißt. Wenige Schritte entfernt ließ sich Der Spiegel ab 1967 von Kallmorgen ein eigenes Haus bauen.

Baustellen wird der am 15. August 1902 in Altona geborene Werner Kallmorgen bereits als Kind erlebt haben. Der Großvater war Ziegeleibesitzer, sein Vater Georg Architekt und zeitweilig Altonaer Bausenator. Nach dem Studium in Berlin, München und Dresden sowie eineinhalb Jahren im Altonaer Bauamt machte Werner Kallmorgen sich 1928 selbständig.

Sein im selben Jahr in der Stresemannstraße begonnenes Wohn- und Geschäftshaus repräsentiert die Neue Sachlichkeit in der Architektur, wie sie Bauhaus-Gründer Walter Gropius beschrieb: „Exakt geprägte Form, jeder Zufälligkeit bar, klare Kontraste, ordnende Glieder, Reihung gleicher Teile und Einheit von Form und Farbe“.
Mit Bunkern und Lagern für Zwangsarbeiter setzte Kallmorgen seine Laufbahn während der NS-Zeit fort. Und er schuf die gar nicht modernen „Norwegerhäuser“ in Wohldorf. Hamburgs Gauleiter Karl Kaufmann hatte 1943 die Anlage von 30 Blockhäusern für den „Erstbezug durch Bedürftige mit Beziehung zur Gauleitung“ angeordnet: gemeint waren ausgebombte NSDAP-Funktionäre. Nach 1945 wurden in ihnen ausgerechnet KZ-Überlebende untergebracht. Die als Tarnung gedachten Grasdächer werden mittlerweile als ökologisch angesehen.

Kallmorgen wirkte maßgeblich am Wiederaufbau mit. Seine bedeutendste Leistung zieht Touristen an und dient als Kulisse in fast jedem Film, der in Hamburg spielt. Bis 2013 jedoch waren Schaulustige im Zollausland der Speicherstadt unerwünscht. Mehr als die Hälfte der Gebäude war durch die Bombardements des Zweiten Weltkriegs beschädigt oder vernichtet. Unter Kallmorgens Regie wurde das Verlorene wiederhergestellt, aber auch Neues errichtet wie 1952/53 das Freihafenamt.

Weithin sichtbar für alle, die das Areal nicht betreten sollten, war der Kaispeicher A. Der angeschlagene „Kaiserspeicher“ von 1875 wurde 1963 abgerissen, und auf 1111 Betonpfählen entstand ein neues Lagerhaus für Kakao, Kaffee und Tee. Durch die Container-Schifffahrt unwirtschaftlich geworden, fand es ab 2007 Verwendung als Basis für eine Hauptsehenswürdigkeit, die 2017 in Betrieb genommene Elbphilharmonie.
Im Fall des Thalia Theaters rekonstruierte Kallmorgen, was sein Vater geschaffen hatte. Schon ab 1938 hatte er an Plänen zu einer Modernisierung des Gebäudes von 1912 gearbeitet. 1945/46 richtete er das weitgehend zerstörte Theater für den provisorischen Betrieb her. Bei der Neueröffnung 1960 wurde besonders Kallmorgens Gestaltung des Zuschauerraums gelobt. Er verantwortete auch den 1964 abgeschlossenen Umbau des Deutschen Schauspielhauses.

An die Zeit des Neuanfangs erinnert ein Kleinod. Seit 1948, als Bücher eine eher exotische Ware darstellten, steht an der Rothenbaumchaussee ein Holzpavillon für die mit 44 Quadratmetern kleinste Buchhandlung der Stadt. Als Antwort auf die dramatische Wohnungsnot der Nachkriegsjahre entwickelte Kallmorgens Büro ab 1959 das erste Fertigbausystem in Deutschland.
Zwei weiße Häuser ziehen im Jenischpark die Blicke auf sich. Wäre es nach Kallmorgen gegangen, gäbe es die Villa des Senators Jenisch von 1834 nicht mehr. 1940/41 entwarf er eine „Hansesche Universität“, für die das Jenisch-Haus abgerissen worden wäre. Insofern ist es ironisch, dass das andere weiße Haus im Grünen von ihm stammt. Das Ernst-Barlach-Haus von 1961/62 war das erste private Kunstmuseum Norddeutschlands und beherbergt die Sammlung von Hermann F. Reemtsma. Das Bauwerk wird als Meisterstück gerühmt; es sei „die Sachlichkeit selbst, klar, einfach, ohne Umschweife und Zutaten“.

Von 1959 bis 1970 befasste sich Kallmorgen mit dem Verwaltungsgebäude des Otto-Versands in Bramfeld. Zwei Komplexe des sozialen Wohnungsbaus tragen seine Handschrift: die Siedlung Beerboomstücken in Groß-Borstel von 1954–60 und die um den Hexenberg in Altona von 1969–74. Sein Einfluss auf die hanseatische Architekturgeschichte kann schon deshalb nicht unterschätzt werden, weil um die 600 junge Architekten sein Büro durchlaufen haben sollen.

Nach öffentlichen Vorwürfen wegen der Kosten für das 1970 eingeweihte Allgemeine Krankenhaus in Altona, heute Asklepios-Klinik, zog der über 70-Jährige sich aus dem Geschäft und in das bayerische Dorf Heimhart zurück, wo er am 26. Januar 1979 starb. Beerdigt wurde er auf dem Friedhof Holstenkamp in Bahrenfeld.
(→ bei uns, Zeitschrift der Hamburger Lehrerbau-Genossenschaft, Sommer 2022)
■
Weitere Porträts Hamburger Architekten:
6 Pingback