Erfahrungssätze zum Journalismus

Als Journalist häufig mit der Arbeit von Polizisten befasst, musste mir eine Gemeinsamkeit der Berufsgruppen auffallen: über beide sind mehr Mythen im Umlauf als Tatsachen bekannt. Das Dienstrecht verhindert, dass Kriminalkommissare sonderlich viel über ihre Tätigkeit preisgeben, von der täglich mehrere Abziehbilder über die TV-Monitore flimmern. Die Legenden des Journalismus leben von einer ähnlichen Grenzziehung, indem authentische Schilderungen über den Redaktionsalltag von den Medien selbst ausgefiltert werden. Kein TV-Sender würde einen Beitrag senden, der zeigt, wie ein solcher wirklich entsteht.

Einschlägige Filme, die einem zuerst einfallen könnten, sind Spielfilme, die auf außergewöhnlichen Ereignissen beruhen: den Affären um Watergate und die → Hitler-Tagebücher. Sie zeigen Journalisten als Helden oder Idioten. Der Normalfall liegt dazwischen, in dem weiten grauen Feld des Berufsalltags, im faden Einerlei, das nicht zur Dramatisierung und Erzeugung eingängiger Klischees taugt.

Betriebsgeheimnisse

Wie es innerhalb der Medien zugeht, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Über die Berichterstatter wird nicht berichtet. Ein Journalist, der aus dem Nähkästchen plaudert, kann seine berufliche Karriere vergessen. Für solches Whistleblowing wird er kein Gehör finden bei denen, die Einflüsterungen sonst gern verbreiten.

Selbstreflexion der Branche ist kein Sujet für Zeitungskolummnisten. Fakenews produzieren nur die anderen, politische Intriganten und der Plebs der Sozialen Netzwerke, nicht der „Qualitätsjournalismus“, wie er sich heuer selbst auszeichnet. Seit die NS-Parole „Lügenpresse“ eine Neuauflage erlebte, werden die Reihen umso fester geschlossen; Kritik am Gewerbe wird als Angriff auf Paragraf 5 des Grundgesetzes diskreditiert.

Das Fiasko von Sebnitz ist nicht nur vergessen, sondern wie nie geschehen, und es hatte für keinen auf Seiten der Medien Beteiligten Konsequenzen. Die Verantwortung, auf die sie andere nur zu gern hinweisen, übernahm niemand von denen, die es angerichtet hatten.

„Neonazis ertränkten Kind“ titelte BILD im November 2000, und alle drehten die Story besinnungslos nach. Einzige Quelle war die Mutter des Kindes. Mit Müttern, die den Tod ihres Kindes nicht verwinden können, muss man rechnen, zumal bei der BILD, die sich selbst als Kummerkasten bewirbt.

In meiner kurzen Zeit bei dem Blatt 1991 in Berlin hatte ich mit einer Mutter zu tun, dessen Sohn von der Staatssicherheit der DDR ermordet worden sein sollte. Ich verbrachte eineinhalb Stunden mit ihr im Foyer des Verlagsgebäudes, wo sie vorstellig geworden war, und forderte sie schließlich auf, mit Belegen für ihre Behauptung wieder zu kommen. Was sie nicht tat und mir ersparte, sie ein zweites Mal abzuwimmeln.

Die Sebnitz-Story war, was ihren Ursprung anbelangt, kein Anfängerfehler, sondern folgte einem politischen Kalkül, das aufging: für lange Zeit wagten die blamierten Medien sich nicht mehr an den real existieren Neonazismus in Ostdeutschland heran, bis er sie 2011 mit der Entdeckung des Nationalsozialistischen Untergrund NSU einholte.

G. Wallraffs Aufzeichnungen über seine Undercover-Erfahrungen bei BILD sind nicht nur das bekannteste, es ist das einzige Buch über journalistischen Alltag, das mir je in die Hand gekommen ist. Freilich muss ich nicht recherchieren und nachlesen, wie Journalismus geht, nachdem ich ihn Jahrzehnte lang praktiziert habe. Vielmehr stünde es an, selbst darüber zu schreiben: über den Abstand zwischen Anspruch und Wirklichkeit oder die Manipulation der öffentlichen Meinung durch Medienvertreter, die ganz und gar nicht die aufrechten oder mutigen Gestalten sind, als die sie erscheinen, wenn einer von ihnen zufällig in der Türkei inhaftiert wird und eine Berichterstattung dazu vorübergehend politisch opportun ist.

Von dem Märtyrer strahlt etwas ab auf die Mehrheit der grauen Männer und Frauen, die von dem ihm unterstellten Tugenden nur so träumen wie sie es ihren Lesern, Zuhörern und Zuschauern vorspielen. Des Abglanzes wegen wird der sonderliche Einzelne umso heller angeleuchtet.

Außenstände

Wenn ich „als Journalist“ unterwegs war, ist das als Rolle zu verstehen, die ich einnahm. Ich wurde nicht dazu ausgebildet und gehörte dem Berufsstand nur vorübergehend an, genau 14 Monate lang. Längst nicht alles, was ich veröffentlicht habe, war journalistisch, aber mein Einkommen erzielte ich zur Hauptsache aus Publikationen in Zeitungen. Das meiste ist mit der Zeit vergangen; einiges habe ich in Bücher übernommen oder in Varianten über die Jahre mehrfach verkauft. Ökonomisch genötigt, dem Zeitgeist hinterher zu hecheln, hielt ich Ausschau nach dem, wozu sich sonst niemand zu Wort meldete.

Ich war so ausdrücklich kein Angehöriger des Journalisten-Standes, dass ich nicht einmal über einen Presseausweis verfügte – was mich nicht daran hinderte, etwa bei Demonstrationen dort zu sein, wo „die Musik spielte“ statt „eingebettet“ dort, wo die Polizei die Presse haben wollte. Tatsächlich kann ich die Gelegenheiten, bei denen mir jemand in drei Jahrzehnten nicht geglaubt hat, wer ich bin, an einer Hand zählen. Ein Presseausweis ist außerdem nicht umsonst – es sei denn, man verfügt außerdem über die Mittel, damit auf Rabatt einzukaufen.

Ich hatte nie die Ambition, mit dem Ausweis herum zu wedeln und hätte meistens Gründe gefunden, es nicht zu tun, weil ich schließlich nicht unterwegs war, um von mir Aufhebens zu machen, sondern von dem, was andere machen, zu berichten. Ich bemühte mich um Unsichtbarkeit.

Journalistische Standardsituationen verabscheue ich und habe sie vermieden: Pressekonferenzen, Zehn-Minuten-Telefon-Interviews, Straßenumfragen – Situationen, die ohne Medien nicht existieren würden, Inszenierungen für diese. Ich musste allerhand telefonieren, aber ich habe kaum je über etwas schreiben müssen, bei dem ich nicht mit jeder Person und an jedem Schauplatz und den sonst in Betracht kommenden Gegenständen leibhaftig so viel Zeit verbracht hatte, wie nötig war, um mir sicher zu sein, womit ich es zu tun hatte.

Journalistenalltag ist es, die Sätze anderer umzustellen oder sonstwie zu modulieren. Ich bin darin ziemlich geübt und habe immer wieder mit derartigen Satzbauten Einnahmen erzielt, unter meinem oder im Namen anderer. Meine Produktion der Magazin-Seite einer Zeitung bestand eine Zeit lang aus täglich vier Texten unter vier Namen, von denen drei „auf Boulevard getrimmte“ Features der dpa waren.

Im letzten Vierteljahrhundert als freier Autor habe ich mich insgesamt für weniger zu schämen als in fünf Monaten bei der BILD angefallen ist. Ein halbes Dutzend Texte oder Absätze, bei denen ich nicht bei der Sache war. Ein paar Irrtümer, die ich inzwischen selbst korrigieren könnte. Eine Handvoll unter tausend Texten, die ich nicht zu meinen Bedingungen, sondern ausschließlich des Honorars wegen geschrieben habe, nicht aus eigenem Entschluss, sondern im Auftrag.

Apropos Honorar: Einer meiner publizistisch heikelsten Texte vom Dezember 2004, über das laufende Kindesmissbrauchs-Verfahren gegen einen Prominenten, wozu ich aus mehreren höchst vertraulichen Quellen schöpfte, wird bis heute von der Zeitung, die ihn zum einmaligen Abdruck kaufte, in ihrem Online-Archiv angeboten. „Alle Rechte vorbehalten“ steht darunter. Mitnichten. Die Zeit, die ohnedies angemessen zahlte, berücksichtigte bereits Ende der 1990er die Online-Verwertung, als davon faktisch noch keine Rede sein konnte; alle anderen taten, als sei diese Form der Vermarktung keinen Cent wert. Aus diesem und anderen Gründen begreife ich mich als freier Autor mit der Spezialität Verbrechenskunde als Opfer organisierter Kriminalität.

Gewerbegeschichte

Trotz Erfahrungen in Fernsehen, Hörfunk, Film, mit dem Literatur-, Theater- und Kunstbetrieb war ich überwiegend in einem Zeitungsgewerbe tätig, das es in Teilen längst nicht mehr gibt. Mit ihm bin ich von Kindesbeinen an vertraut. Mein Vater war Fahrer bei einem Zeitungsvertrieb und später in der Druckerei des Springer-Verlags in Hamburg beschäftigt; ich absolvierte ein Schulpraktikum in der Grafik-Abteilung der Welt, und mein erster Job nach dem Abitur war Redaktionsbote der Hörzu. Ich habe in Druckereien und als Layouter am Papier wie am Bildschirm gearbeitet. Nebenbei war ich Lektor und in der Buchherstellung und an einer Monatszeitung als Verleger, Herausgeber, Redakteur, Hersteller und Auslieferer beteiligt.

Als ich 1985 mein Studium der Philosophie ohne akademischen Abschluss beendete, standen in den Redaktionen von taz und Hamburger Morgenpost Schreibmaschinen, bevorzugt Olympia Traveller. Zu der Zeit stieg ich kurz nacheinander auf elektronische Schreibmaschine und Schreibcomputer um. Als Freelancer konnte ich mir nicht nur nicht erlauben, hinterher zu hinken, sondern musste einen Schritt voraus sein, weil mir keine Einarbeitungszeit vergütet wurde. Ich hatte eine Homepage, bevor die Zeitungsverlage, die meine Produkte kauften, daran auch nur dachten.

Über die Bedingungen oder gar die Geschichte seines Gewerbes weiß der Journalist gewöhnlich nicht mehr als jeder andere Werktätige über seinen Beruf, nämlich nur gerade den Ausschnitt, der seinen Alltag betrifft, und sonst fast nichts. Eine notwendige Ausblendung, weil es sonst nicht zu ertragen wäre? Ich kann mich kann kein Gespräch mit einem Medienvertreter über die Branche erinnern, in dem nicht Geld im Mittelpunkt stand.

Der durchschnittliche Journalist kann mit einem Namen wie Siegfried Kracauer nichts anfangen. Ich habe ihn selbst erst entdeckt, als ich bereits publizierte und als Außenseiter meine Stellung zum Betrieb täglich neu definieren musste. Was mich für Kracauer einnahm, war seine extreme Variationsbreite: von der verschlüsselten Abhandlung bis zur Reportage, von der Kulturkritik bis zur Momentaufnahme. Ich schrieb Texte, die seine Feuilletons nachahmten; nicht das Sujet, sondern den Duktus; nicht ein Thema, sondern seine Behandlung.

„Investigativer Journalismus“ wird als Marke verkauft, heißt aber schlicht nur: nicht lediglich dasselbe zu berichten, was alle anderen auch zu wissen glauben, sondern über das, was man zu berichten hat, mehr zu wissen als die meisten anderen.

Meine Marktlücke bestand über viele Jahre in einer nicht sonderlich spektakulären Exklusivität, die ich lediglich dadurch erreichte, dass ich nicht tagein tagaus den Medien- Terminkalender abarbeitete, sondern mir meine Themen selbst suchte. (Von Gerichtsterminen abgesehen, bei denen ich freilich wiederum oft der einzige meiner Art war.) Was die Agenturen lieferten und die Redakteure selbst erledigten, musste mich nicht interessieren, und es deckte ein eng umhegtes Gebiet ab. Ringsum war ziemlich freies Feld.

Verzichterklärung

Ich musste nur Augen und Ohren aufhalten. Wenn ich der Ansicht war, genug Material für eine Geschichte beisammen zu haben, schrieb ich sie und lieferte sie da und dort ein. Ich behielt mir selbst vor, worüber ich schrieb und vermied so gut es ging, mich mit „Nachrichten“ zu befassen. Das einzige Gebiet, auf dem ich von heute auf morgen Texte ablieferte, war die Berichterstattung aus dem Gerichtssaal. Dabei ging es nicht darum, Texte anderer umzuschreiben, am Telefon Stellungnahmen einzuholen oder bei einem eigens für die Medien anberaumten Termin das übliche Foto zu machen, sondern um genau das, was vor meinen Augen und Ohren in der bestimmten Zeitspanne geschehen war.

Als Philosoph, der unter die Journalisten geraten ist, habe ich mir ein ideales Bild vom Reporter bewahrt: er berichtet von der Wirklichkeit und sollte möglichst dabei sein, wenn das geschieht, wovon er schreibt. Er sollte die Menschen, über die er sich äußert, besser kennen als von einem Telefonat oder Fototermin und über Sachverhalte umfassender im Bild sein, als seine Leser sein können.

Schon klar, dass es so nicht funktioniert. Freilich bilden sich allzu viele Konsumenten mehr zu den Produkten ein, als darin steckt, und viele Produzenten haben den Kontakt zu der Wirklichkeit, über die sie zu berichten vorgeben, verloren. Journalisten halten sich in ihrer eigenen Meinungsblase auf. Theoretisch verfügen sie über die Mittel, sie zu durchstoßen. Aber als Angestellte eines Betriebs unterliegen sie Beschränkungen, die von Verlag zu Verlag, von Redaktion zu Redaktion variieren. So oder so tragen sie Scheuklappen und tun nur das, was von ihnen verlangt wird.

Der gemeine Journalist ist ein Erzeugnis des Betriebs und funktioniert – oder nicht. Wer nicht mitmacht, ist draußen. Was wie eine Verschwörung oder eine verordnete Gleichschaltung anmutet, ist nur der Normalfall: Menschen, die eine ihnen gleichgültige Arbeit verrichten, um sich die Geldmittel für das zu verschaffen, was ihnen wirklich wichtig ist. Während sie auf der Pressekonferenz weilen oder im Büro am Bildschirm Satzbausteine kombinieren, sind sie in Gedanken ganz woanders. Kommt auf nicht darauf an, dass sie bei der Sache sind. Schon werden digitale Redaktionssysteme getestet, die auf gedankenlose Schreiberlinge in Menschengestalt verzichten können.

Das Internet hat die Meinungsvielfalt vergrößert, und die Medien ziehen nach mit der Personalisierung von Nachrichten. Im Lokalanzeiger meiner kleinen Stadt zeigt sich der Trend darin, dass der meist abgebildete Kopf im Blatt der des Chefredakteurs ist. Der Bote macht sich zur Botschaft. Über die Wirklichkeit, über Sachverhalte, zu denen ich mir eigene Meinung bilden könnte, statt die anderer zu übernehmen, werde ich heute so unzulänglich informiert wie in prädigitaler Zeit. (→ Die Lücke im Web)

© Uwe Ruprecht