Das Kennzeichen der Verfolgung

Nein, ich drehe nicht durch. Natürlich gibt es eine ganz einfache Erklärung. Irgendeine muss es geben.

Am Anfang war ein Doppelmord in Fredenbeck. (→ Leroys Kette) Ich konnte die inzwischen wahrscheinlich vernichteten Spurenakten der Polizei einsehen und stutzte an einer Stelle. Das Wunschkennzeichen des Autos, das die Ermittler in das entsprechende Formular eingetragen hatten, verriet einen finsteren Aspekt im Selbstbild des Hauptverdächtigen, auf den nicht weiter eingegangen wurde.

Obwohl die Polizei verhältnismäßig viel in diesem Fall medienwirksam ermittelte und der genaue Standort des Fahrzeugs für die Verifikation ihrer Rekonstruktionen zum Tatablauf bedeutsam hätte sein können, wurde nach Zeugen für Beobachtungen zwar gesucht – aber nicht öffentlich. Niemand erfuhr das Kennzeichen aus der Zeitung oder im Internet.

Datenschutz für die Initialen des Beschuldigten kam wohl kaum in Betracht; die waren längst publik. Mir war die Zahl geläufig, aber ich rekapitulierte, was es darüber zu wissen gibt.

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Kapitel 13, Vers 18 der biblischen Apokalypse zeichnet das Tier mit den zwei Hörnern, das wie der Drache spricht. »Wer Verstand hat, errechnet das Zahlzeichen des Tieres: Es ist nämlich die Zahl eines Menschen, und zwar ist es die Zahl 666«: To Mega Therion, das Große Böse Biest.

Kabbalah heißt, die Welt nach Worten und Zahlen zu entschlüsseln: 666 könnte in dieser Rechnung das Produkt aus 18 (Adam) und 37 (Eva) sein. 18 steht in der politischen Mythologie für den ersten und den achten Buchstaben des Alphabets und soll Adolf Hitler heißen. Für den britischen Sekten-Guru Aleister Crowley bedeutete die 18: »living«.

Schwarze Messen, Rosenkreuzer, Illuminaten, Freimaurer und Aufklärer – parallel zu den Lehren der staatlichen Bildungsinstitute und Universitäten, die dem Logos die Herrschaft zuweisen, durchzieht die Geistesgeschichte die Begründung der Welt aus dem Mythos. Neben den anerkannten Religionen erklären Spiritisten und Theosophen, Anthroposophen und Scientologen die Welt aus eigenen, mitunter mit Logos und Kirchen und untereinander verwobenen Systemen.

Ein Gutteil der Verachtung für das Okkulte und der Berufung seiner Gefährlichkeit geht auf das Konto der Gegenpropaganda der katholischen Kirche, die den praktischen Exorzismus nie aufgegeben hat und auf diese Weise selbst dazu beiträgt, ein handgreifliches Eintreten des Teufels in die Wirklichkeit zu beschwören.

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Von der regelrechten Untergrund-Kirche bis zur Unterhaltung einer Freundes-Clique, als Teil eines verzweigten Netzwerks oder höchst privater Spleen kommt vieles als Quelle satanischer Legenden in Frage. In Europa sind keine Fälle bekannt, bei denen eine okkulte Sozietät sich nicht mit der Simulation von Bluttaten und symbolischer Grausamkeit oder der Folter einer Gehirnwäsche begnügt hatte.

Was auch heißen könnte, dass es gut verborgen blieb – aber weil eine Annahme möglich ist, muss sie nicht zugleich wahr sein. Thriller-Autoren und Verschwörungstheoretiker dürfen darin so hemmungslos sein wie ihr Publikum es mag; wer bei Verstand bleiben will, sollte sich an das Wissbare halten.

Hin und wieder allerdings löst sich eine Sekte im Massensuizid auf; erschlagen Schüler einen der ihren in verzweifelter Teufelsanbetung und marschieren nach dem Gefängnisaufenthalt als Neonazis weiter; lebt ein Pärchen ein Road Movie vom Untergang und will, versehen mit Accessoires aus dem Gruselshop für Grufties, einmal erleben, wie es ist, wenn einer unter ihren Händen stirbt.

Zeichnung: urian
Lebensbaum der Kabbalah

Wer noch nie eine Zeile von Helena Blavatsky gelesen hat und von der Kabbalah nur kennt, was eine Verfilmung von Gustav Meyrinks Golem davon mitteilen könnte, wird gleichwohl zu Silvester eine von 78 Tarot-Karten ziehen, die zentrale Elemente des Lebens repräsentieren sollen, und an eine individuelle Bedeutung des zufälligen Zeichens glauben, oder dass die Entsprechung der 22 Großen Arkana mit den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets wesentlich ist.

Längst haben Kleinstädte Läden, in dem der dingliche Bedarf an spiritueller Aufwertung des Alltags gedeckt werden kann. Je nach Kundenorientierung überwiegen im Sortiment weiche Esoterik oder Heavy Metal.

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Die 666 prangt auf T-Shirts und gehört zur Dekoration des gemeinen Horrorfilms. Die Popularität der Ziffernfolge als Kennzeichen des Bösen verdankt sich weniger der Bibel, als ihrer Anverwandlung durch Aleister Crowley (1875–1947), der sie ins Medienzeitalter überführt hat. Der drogensüchtige Dichter, Gelehrte und Freigeist ist eine der drei einflussreichsten Figuren, in denen sich das Okkulte im 20. Jahrhundert verkörpert hat.

Wurzelrassentheoretiker Rudolf Steiner steht für eine Esoterik, die im bürgerlichen Alltag aufgehen kann. Das akute Böse repräsentieren Charles Manson und seine Family, verurteilt für eine Serie von Morden und Massakern. Prominentestes Opfer wurde 1969 die schwangere Ehefrau des Regisseurs eines Kult-Horrorfilms, in dem sie die Hauptrolle spielte (Sharon Tate, Roman Polanski, Tanz der Vampire).

Bei Crowley stehen Gut und Böse im Zweifel. Die Abtei Thelema, die er in Italien gründete, war allem Anschein nach harmlos – bis der Faschismus die Kommune zerstörte. »Tu, was du willst, sei das ganze Gesetz«: sein Leitspruch ist vieldeutiger, als er scheint. Selbst seine gröbsten Gegner haben Crowley höchstenfalls Verstöße gegen den guten Geschmack nachweisen können und ihn nie mit Gemetzel in Verbindung gebracht.

Der Crowleyanity zufolge wird der Meister ständig wiedergeboren. Die Great Wild Beast Furtherment Society erforscht das Vorkommen von Inkarnationen des Meisters; sie gehört zum kalifornischen Ableger des Ordo Templi Orientis O. T. O., der Solar Lodge, die von Vereinsrechtlern als irregulärer Zweig gescholten wird und der mit Charles Manson kooperierte.

»Das Ritual beider Gesellschaften basierte auf Blutopfern, wobei in der einen wie der anderen Hundeblut als sakrales Getränk benutzt wurde«, schrieb Jan Józef Szczepański 1975 in seinem Essay über den Fünften Engel Manson.

»Ob die Opfer ausschließlich Hunde, Katzen und Hühner waren, worauf die Aussagen vor der Polizei und die Filmstreifen hinweisen, auf denen manche Zeremonien festgehalten wurden, weiß man bis heute nicht genau. Ernst zu nehmende Indizien sprechen jedoch dafür, dass die an den Badestränden von Los Angeles gefundenen Leichen (meist junger Frauen) mit abgeschnittenen Köpfen und den Spuren grausamer Torturen einen unmittelbaren Zusammenhang mit den rituellen Praktiken der Sektierer haben.«

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Zu der Zeit, als die Polizei in Fredenbeck nur verdeckt nach »RG 666« fragte, machte ein Neonazi Skandal, der in Verbindung stand mit der Thelema Society einer Crowley-Inkarnation im Norddeutschen.

Neonazis bevorzugen üblicherweise germanische Geheimgesellschaften wie die Artgemeinschaft des 2009 verstorbenen Jürgen Rieger – über dessen Reinkarnationskarriere nichts Näheres bekannt ist. Der Stifter seiner Religion des Neuheidentum, Reichsführer-SS Heinrich Himmler, war fest von seiner Wiedergeburt überzeugt.

Crowleys Inszenierungen mit Drogen, Sex und Krötenkreuzigungen wären heute so wenig verstörend wie es inzwischen Otto Mühls Blut- und Schlammschlachten oder Rudolf Schwarzkoglers Selbstverstümmelungen sind. Künstlerinnen, die chirurgische Körperexperimente an sich vornehmen lassen, sind den bunten Magazinen bestenfalls eine Notiz wert. Das Böse der Manson-Family bewahrt seinen Schrecken.

Foto: urian
27. Oktober 2018

Zur 666, mit der jeder Knirps kokettieren kann, gibt es eine Aussage Crowleys vor Gericht. Er hatte den Prozess angestrengt gegen ein Buch, das ihm nachsagte, Schwarze Magie zu betreiben: »eines Tages soll ein Baby auf mysteriöse Weise verschwunden sein. Es gab auch eine Ziege dort.«

In seiner Vernehmung 1934 wurde Crowley gefragt: »Haben Sie die Bezeichnung ›Das Tier 666‹ angenommen?

Ja.

Nennen Sie sich ›der Meister Therion‹?

Ja.

Was bedeutet ›Therion‹?

›Große wilde Bestie‹.

Geben diese Titel einigermaßen zutreffend Ihre Lebensführung und Ihre Weltanschauung wieder?

›Das Tier 666‹ bedeutet doch nur ›Sonnenlicht‹. Sie dürfen mich ›Kleiner Sonnenschein‹ nennen.«

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Wenn der Hauptverdächtige aus Fredenbeck keine Spezialkenntnisse besaß und keine umfangreiche Bibliothek, und da er das Internet ignorierte, wusste er allenfalls, was Presse, Funk und Fernsehen mit Pentagrammen und Illuminaten machen.

Dass die Freimaurer die Verfechter von Aufklärung waren, Vernunftmenschen; dass sie verfolgt wurden, weil sie für Meinungsfreiheit eintraten; dass sie ins Exil, in den Kerker gehen mussten; dass sie ermordet wurden, weil sie nicht klein beigaben gegenüber der Obrigkeit, wird im populären Gemälde der Geheimgesellschaften ausgelassen, weil es weniger bildreiche Schichten anspricht als Werwolf, Vampir und Cagliostro.

Der Aufenthalt des wichtigsten Propagandisten der Illuminaten, des Freiherrn von Knigge an dem Ort, wo die Polizei die 666 des Mordverdächtigen so stehen ließ, eignet sich nur auf sehr subtiler Ebene zum Gruseln. Die Obrigkeit verbannte den Schwerkranken im Winter in die Garnisonsfestung an der zugigen Elbe, wo er dahinsiechte an seiner Krankheit zum Tode. Kein Blut fließt in der Geschichte außer aus dem Husten des Schwindsüchtigen. (→ Mit doppelter Dosis Opium & → Knigge und die Illuminaten)

Knigge ist für ein Buch berühmt, dass er nie geschrieben hat, und die äußerste Verschwörung, die er angezettelt hat, war eine des besseren Umgangs miteinander. Kein Hauch des Grauens, den die Illuminaten dank einiger US-Thriller-Autoren verströmen, die sich um historische Tatsachen so wenig kümmern wie mutmaßlich der Mordverdächtige, mit dessen Wunschkennzeichen die Polizei in Stade seltsam verfuhr.

Sie fragten ihn nicht danach, und ein Gericht konnte es nicht, weil er sich in der Untersuchungshaft das Leben nahm. Welche Wünsche er mit der Zahl verband, ist unbekannt, nur dass es sie gegeben haben muss. Dass sie etwas zum mysteriösen Mordmotiv beitragen könnten, ist meine unbelegbare Annahme.

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Jetzt werde ich also verfolgt. Es fing schon vor langem an. Der Mord war 2006. Ein paar Jahre später machte ich ein Foto, weil mir so unglaublich vorkam, was ich sah.

Mittlerweile sehe ich an aufeinander folgenden Tagen eins, manchmal zwei; und einmal, als ich an geeigneter Stelle gerade davon sprach – Auto an Auto wischte von links nach rechts und von rechts nach links – sah ich eins, und dann noch eins, und mein Straßenbanknachbar auch eins.

Ich weiß, wie das klingt, und der betreffende Zeuge ist niemand, auf den ich mich berufen würde. Ich habe noch einen weiteren Zeugen für eine kurze Aufeinanderfolge von zweien.

Foto

Als ich gestern ein Foto machte und beschloss, meinem Wahn die Zügel schießen zu lassen, sah ich später noch eins – aber auf die Zahl kommt es in dem Punkt nicht an.

Erstmals in Trier wurden keine Kfz-Schilder mehr ausgegeben, deren Buchstabenfolgen an das Dritte Reich erinnern könnten, wie NS, HJ, KZ, SA, SS. Das Beispiel machte in den 1980ern Schule. HH ist bis heute nicht betroffen.

Die Zahl des Bösen als eine unter anderen, die von der Zulassungsstelle ausgegeben werden – 18, 81, 14, 88, 23 und was sonst noch – soll mir Recht sein. Auf Wunschkennzeichen rechtfertigt sie indes jeden Argwohn. Erkennen kann ich es nicht und habe keine Möglichkeit zur Überprüfung.

Foto: urian
24. Juli 2018

Wie viele der ausgegebenen Nummern sind Zufallskombinationen, wie viele bestellt? Ich musste mich nie damit befassen – aber eine Zufalls-666 würde ich ablehnen. Nicht weil ich, sondern weil andere daran glauben, die das Kennzeichen in ihrem Sinne auffassen könnten.

Foto
16. August 2018

Es ist aussichtslos, Erkundigungen einzuziehen, aber ein Auto, das häufiger vor meiner Haustür parkt, trägt ein Wunschkennzeichen, wie mir eine gemeinhin zuverlässige Quelle versichert hat.

Foto: urian
18. Oktober 2018

Ich drehe nicht durch. Es gibt es eine ganz einfache Erklärung. Ich muss sie nur finden.

Literaturhinweise

Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen, Freiburg/Br. 2005 | F. Smit: Gustav Meyrink, München 1990 | H. Strohm: Die Gnosis und der Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1997 | J. J. Szczepański: Vor dem unbekannten Tribunal, Frankfurt/M. 1979 | R. Tegtmeier: Aleister Crowley, München 1989 | U. Wolf: Der Teufel ist in mir. Der Fall Annemarie Michel, die letzte Teufelsaustreibung in Deutschland [1976], München 2006