Der »Gaffer-Prozess« vor dem Landgericht Stade

Presse, Funk und Fernsehen nennen das Verfahren »Gaffer-Prozess«. Der Fall löste eine bundesweite Debatte über »härtere« Bestrafung von Schaulustigen aus, die Einsatzkräfte behindern oder Aufnahmen von Verletzten und Toten veröffentlichen.

Dass gerade dieser Vorfall zum Anlass wurde, das Phänomen zu skandalisieren, verdankt sich einem Zufall mehrerer Faktoren. Es gab Tote; der Schauplatz befand sich mitten in einer Stadt, so dass es Publikum gab, bevor Sanitäter und Polizei eintrafen; es kam zu Handgreiflichkeiten zwischen Publikum und Polizei; und diese wurden von einem professionellen Zuschauer im Bild festgehalten und verbreitet.

Nichts davon ist neu. Neu ist, dass das Publikum seine Aufnahmen post-wendend publiziert – und die Fotografen und Filmer sich nicht nur für befugt halten, sondern ihr angemaßtes Recht gegen die Einsatzkräfte durchzusetzen versuchen.

Zur Etikette

Seit alle Feuerwehrleute Handys haben, ist eine Sparte des professionellen Voyeurismus ausgestorben: freie Reporter, die Autounfälle und Großbrände dokumentieren. Selbstverständlich gab es auch Abnehmer für Leichenbilder, aber Zeitungsleser und Fernsehzuschauer kriegten nie eines zu sehen.

Uwe Barschel in der Badewanne ging 1987 hin, nicht nur aus zeithistorischen Gründen – kein Blut, er sah wie schlafend aus; und die Angehörigen wussten Bescheid, als das Bild erschien.

Ein Mordopfer wird stets nur im Sarg gezeigt, das Unfallopfer im Auto – also gar nicht. Gewiss gibt es andere Aufnahmen, auch von Reportern, aber die sieht in der Regel nur, wer einen Fall nach Ablauf einiger Zeit rekonstruiert.

Grenzen sind nicht absolut, und der Veröffentlichungszwang in den Sozialen Medien verschiebt die zwischen Privat und Öffentlich bereits. Als jemand, der seinem Zwang schon nachgegeben hat, bevor die digitalen Naiven geboren waren, bin ich unverdächtig, ebenso zwanghaften Ordnungsfantasien anzuhängen, wenn ich die Linien unterstreiche, die vom Gros der Profi-Gaffer seit vier Jahrzehnten nicht überschritten werden.

In den 1970ern war es z. B. noch üblich, Täter und Opfer von nicht per se zeitgeschichtlich bedeutenden Straftaten beim vollen Namen zu nennen. Dass es in den traditionellen Medien damit vorbei ist, beruht nicht auf Konvention oder Zensur; die Grenzen erwachsen aus Verantwortung.

Im Pressespiegel

Ein Splatter-Fan, der zufällig zugegen ist, nachdem es gekracht hat, kapiert vielleicht nicht, was er tut, wenn er Verletzte ablichtet und postet. Was er verstehen muss, ist der Platzverweis der Polizei.

Um den ging es vor mehr als drei Jahren, im Juli 2015 in Bremervörde. Eine 59-Jährige erlitt am Steuer ihres Automobils einen epileptischen Anfall, »weil sie ihre Medikamente nicht eingenommen hatte« (NDR), und fuhr in eine Eisdiele. Zwei Menschen wurden schwer verletzt. Während sie starben, standen Leute herum.

Ich bin weitgehend in der Lage des gewöhnlichen Medienkonsumenten, als ich am 10. September 2018 im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Stade Platz nehme: ich weiß, was google News anbietet. Was ich außerdem erfahre und wovon vor Gericht keine Rede ist, kann bis hierhin bleiben, was es ist: unveröffentlicht.

Die 21 und 28 Jahre alten Männer auf der Anklagebank sind Brüder; mit einem 37-jährigen Bruder wurden sie vom Amtsgericht in Bremervörde im April 2017 verurteilt. Der Älteste konnte gegen seine Bestrafung mit einer Zahlung von 100 Euro nicht in Berufung gehen, der 21-Jährige (19 zur Tatzeit, weshalb eine Jugendkammer zuständig ist) gegen seine Geldstrafe von 150 Euro schon.

Pressespiegel

Für den 28-Jährigen geht es nicht nur um die vier Monate Haft, mit denen ihn das Amtsgericht bedachte. Er war am Tattag auf Bewährung in Freiheit und müsste die ausgesetzte Gefängnisstrafe ebenfalls abbüßen, hätte das angefochtene Urteil Bestand.

Zum Prozessauftakt vor vier Monaten gab es einen »Medienauftrieb«. Die sachlichste Zusammenfassung dessen, worüber ich an diesem Montagmorgen nicht als eigenes Wissen verfüge, bietet der Norddeutsche Rundfunk.

Die drei Brüder sollen »nach dem Unfall in der Eisdiele die Rettungskräfte behindert haben. Sie sollen unter anderem in Rangeleien verwickelt gewesen sein, bei denen Polizisten und ein Feuerwehrmann verletzt wurden. Zudem sagte ein Polizist aus, der Hauptangeklagte habe die Rettungsarbeiten mit seinem Handy gefilmt. Dieser Vorwurf konnte nicht zweifelsfrei bewiesen werden, führte aber zur Bezeichnung ›Gaffer-Prozess‹. Die Angeklagten beteuerten während des gesamten Prozesses ihre Unschuld.«

Das erschien im Mai. Seitdem waren keine Medien mehr da – bis auf den Berichterstatter der Bremervörder Zeitung, dessen Texte nicht ohne Umstände verfügbar sind. Das Blatt hat eine Homepage, aber keine Online-Ausgabe.

Verhandlungssache

»Prozess« heißt das Unternehmen so wenig zufällig, wie es »Verhandlung« genannt wird. Auch »Sitzung« ist oft buchstäblich zu verstehen. An diesem Tag nicht, denn die Hauptsache findet nicht im Saal statt, sondern während ich mit dem Zeitungskorrespondenten vor der Tür des Justizpalastes plaudere.

Die Verteidiger hatten zuletzt zwei Beweisanträge gestellt. Die Vorsitzende Richterin trägt die Begründung der Kammer – das sind neben ihr zwei Schöffen – für die Ablehnung vor. Ein Verteidiger bekundet, auf dieses Schriftstück in entsprechender Form erwidern zu wollen und bittet um eine angemessene Unterbrechung, die gewährt wird.

Alle auf und vor die Tür, auf unbestimmte Zeit, bis die Anwälte fertig sind. Ich vergaß zu erwähnen: es war Publikum außer mir und dem Journalisten zugegen, fünf Leute, darunter der mitverurteilte Bruder der Angeklagten.

(Stunden später musste ich jemandem erklären, dass Gerichtsverhandlungen gemeinhin öffentlich sind. Kann nie schaden, Grundpfeiler der Rechtsordnung zu kennen; erst Recht nicht in Stade, wo einer der Baumeister lebte. [G. W. Freudentheil])

Zuschauern bietet das Gerichtsgeschehen an diesem Tag fast gar nichts und wenig für Zuhörer. Für die wird das Ganze allerdings auch ebenso wenig veranstaltet wie der tatgegenständliche Unfall in der Eisdiele für Gaffer gedacht war.

Dass es beiläufigen Lesern zu langweilig ist, genauer zu erfahren, worum es in den Beweisanträgen der Rechtsanwälte ging, wäre für diese kein Grund, sie nicht zu stellen. Stellen Sie Ihre Unterhaltungserwartungen zurück, vergessen Ihre Vorurteile und stellen sich vor, Sie wären wegen was auch immer angeklagt – Sie würden zetern und verzweifeln, wenn ihr Verteidiger einen Winkelzug ausließe.

Der »Winkelzug« ist das Zitat einer Metapher. Es gibt wohl »Winkeladvokaten«, aber das sind gerade die, denen Beweisanträge wie die genannten nicht einfallen. Die stellen wohl auch Anträge, aber auf eine Ablehnung zu erwidern hätten sie schon nichts mehr.

War der Platzverweis, dem die Angeklagten nicht Folge geleistet haben sollen, nicht nur formal gerechtfertigt, sondern auch materiell? Und wie beurteilt sich danach der Einsatz des unmittelbaren Zwangs durch die Vollstreckungsbeamten, gegen die Widerstand geleistet zu haben die angeklagte Straftat ist?

Den zunächst abgelehnten Anträgen wurde schließlich doch stattgegeben. Verhandlung eben. An einer Stelle der Begründung der Ablehnung hatte ich ganz unjuristisch gestutzt: das Gericht, hieß es, habe bisher 14 Zeugen gehört und 28 »Lichtbilder in Augenschein genommen«. Nur 28? Am nächsten Verhandlungstag wird es um die hunderte gehen, die nicht als Teil der Beweisführung der Staatsanwaltschaft in die Akte gelangten.

Ob das die Einschätzung der Sachlage ändert oder neue Tatsachen schafft? Wer die Wahrheit finden will, kann nicht auf einen möglichst »kurzen Prozess« schwören.

→ Notizen vom nächsten Prozesstermin

ÜBERSICHT Der »Gaffer-Prozess«

Siehe auch Darf man Gaffer fotografieren?