Wie im Landkreis Stade des Kriegsendes gedacht wird

76 Jahre ist es her, dass Deutschland durch militärische Gewalt vom selbst gewählten Wahn des Nationalsozialismus befreit wurde. Lange genug, damit sich die Mythen, die in den ersten Jahrzehnten nachher verfertigt wurden, als die Erlebnisgenerationen noch das Sagen hatten, wie frisch aufblühen können. Als Organ des Neuen Kaiserreichs, in dem sowohl Nationalsozialismus wie Demokratie negiert werden, liefert das Stader Tageblatt gleich zwei Beispiele für Geschichtsklitterung.

Eine 89-Jährige kommt lang und breit mit ihren unhinterfragten so genannten Erinnerungen zu Wort, in die Entschuldungsmythen eingeflossen sind. Der Zweite Weltkrieg erscheint darin selbstverständlich nicht als Angriffskrieg, sondern als Geschehen, das von der ahnungslosen Bevölkerung zu erleiden war, nämlich erst am Ende, als die Alliierten mit Tieffliegern die Bahnlinie zwischen Hamburg und Cuxhaven ins Visier nahmen oder ihre für Hamburg bestimmten Bomben auf dem Land abwarfen.

„Besonders präsent“ sei der damals 14-jährigen Zeitzeugin der Angriff von Tieffliegern auf einen Zug im Bahnhof Kutenholz-Mulsum. Einen Zug mit Häftlingen aus dem → Lager Sandbostel. Die Zeitung stellt keineswegs klar, dass diese Attacke nicht den Häftlingen galt. In ihrer Darstellung handelt es sich bei diesen außerdem um Häftlinge, die die SS „nach einem Aufstand“ zunächst nach Bremervörde habe marschieren lassen, um sie dann via Stade weiter zu transportieren, „von wo sie Richtung Ostsee verschifft werden sollten“.

Wieso die SS aufsässige Häftlinge zur Ostsee verbringen sollte, erklärt der Zeitungsartikel nicht. Offenbar hat sich die Autorin mit den Erinnerungen der Zeitzeugin begnügt und es nicht für nötig gehalten, diese mit den historischen gesicherten Tatsachen abzugleichen. In dem am Bahnhof beschossenen Zug saßen Häftlinge, mit denen Reichsführer-SS Heinrich Himmler geschachert hatte, und die zur Freilassung nach Schweden bestimmt waren. (→ Busse in die Freiheit)

Der Zeitzeugin und der Autorin kommt es vor allem auf eine Szene an: „Als meine Mutter ihnen [den verletzten Häftlingen] etwas zu trinken anbot, drohte ein Wachmann, sie zu erschießen“. Dazu kam es nicht. Wichtig ist ja auch nur: die gewöhnliche deutsche Mutter war menschlich; die Unmenschlichkeit ging allein aus den den Wachleuten, ob sie nun zur SS oder zur Wehrmacht gehörten, was der Text nicht deutlich macht.

Der Artikel schließt damit, dass für den Bahnhof Mulsum eine Gedenkstele zur Erinnerung an die von den Alliierten getöteten Häftlinge vorgesehen ist. Das ist den Deutschen 76 Jahre nachher wichtig und erinnernswert: dass die Toten in ihrer Nachbarschaft auf das Konto der Befreier gingen.

Sich nicht der eigenen Vorfahren als Täter zu entsinnen ist die Hauptsache. Und Opfer gibt es ja reichlich, um sich mit dem Gedenken an sie selbst zu beweihräuchern. (→ Fredenbeck und der Nationalsozialismus) Führend bei dieser Verschleierung ist ein Politiker der Linkspartei, der in der Zeitung jedoch stets als „Lokalhistoriker“ auftritt, als verfolge er mit seinem Engagement nicht auch eine politische Agenda.

Nun hat er dafür gesorgt, dass das Grab eines auf dem Friedhof in Bossel bestatteter sowjetischer Kriegsgefangener mit einem Stein versehen wurde. In Kranenburg wurden ebenfalls zwei Grabsteine gesetzt: sie stehen nebeneinander zur Erinnerung an eine polnische Zwangsarbeiterin und einen deutschen Kriegstoten. Damit macht diese Art des Gedenkens überdeutlich, worum es ihr geht. Die Nationalsozialisten waren andere: die eigenen Vorfahren waren ebenso Opfer wie die Bewohner der Länder, die überfallen und unterjocht wurden.

Wenn im Landkreis Stade von Tätern die Rede war, dann nur, indem sie geehrt wurden. (→ SS-Mann 92901 / → Ein ehrenwerter SS-Mann) Im Übrigen werden sie aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Dass dabei ein Kommunist inkognito federführend ist, zeigt an, wie weit sich das Establishment des Neuen Kaiserreich an der Unterelbe inzwischen von der Demokratie entfernt hat und welche Art von Staat es anstrebt.