Als Richert erwacht, fühlt er sich wie mit dem Putzlappen eines Lageraufsehers geknebelt. Die Hure zerrt ihren ersten Freier durch den Gang. Sie ist fett, um die fünfzig, und kommandiert den Kunden nach Feldwebelart.

Ist der Freier fort, wird Richert ihr Röcheln über der Kloschüssel zwei Türen weiter hören. Er stellt sich vor, dass sie Sperma spuckt; es ist wohl nur Ekel pur. Jedenfalls wiederholt sich die Prozedur allmorgendlich, nach jedem Freier, also ein Ritual.

Vermutlich bedient sie vornehmlich Stammkunden, Männer ihres Alters, die sie seit Jahren besuchen. Sie steht nur vormittags auf der Straße, bevor das eigentliche Geschäft läuft.

Unvorstellbar, dass ein zufälliger Passant gerade sie wählen könnte. Unter den Megären der zweiten Garnitur, die Tagschicht schieben, Typ Sekretärin mit Goldrandbrille oder minderjährige Fixerin, fällt sie durch ihre aberwitzige Hässlichkeit auf.

„Dicke Bertha“ nennt Richert sie bei sich und assoziiert ein von Schrapnellsplittern zerfetztes Gesicht. Den Männern, die sie aufsuchen, mag es als Vorzug erscheinen; erschrecken wird sie eher die unwirkliche Schönheit der nächtlichen Anbieterinnen.

Zeichnung: urian

Sieben Uhr früh, der Freier will sich vor der Arbeit einen blasen lassen. Bald wird Richerts Hirn sein Stöhnen empfangen. Wie Eispickel hacken die Absätze der Hure hinein.

Vor dem Fenster zum Hof ballen sich dröhnend die Geräusche. Die Passage zur Gerhardstraße wirkt als Trichter für den Lärm des Viertels: schnalzende Autoreifen auf Kopfsteinpflaster, knurrende Schäferhunde, das Hasi-Hasi-Gehechel der Huren, Lieder zu Drogenlieb und -leid aus Musicboxen in den Kneipen, streitende Nachbarn, orientalische Litaneien und bierseliges Gelalle, ein wütend pfeifender Teekessel, den niemand von der Herdplatte nimmt, Katzenfauchen und Kinderschreie, fernes Zischen und Scharren auf den Docks und gelegentlich eine Schiffssirene.

Und Hämmern, gnadenloses Hämmern aus verschiedenen Winkeln des Hofs, wo ein Bewohner hockt und mit dem Hammer philosophiert, Schlag um Schlag ein Ding bestraft für die eigene Wut, Verzweiflung, Sinnlosigkeit, Leere und Langeweile.

Glocken der Unterwelt. Ein perkussives Gebet, das nur die Ohren der anderen Elenden erreicht, die die stotternde Botschaft vervielfältigen. Um die Gerhardstraße wohnen die Behämmerten. Zwei Nervenkliniken, wird gesagt, müssen neu eröffnet werden, will man das Viertel sanieren.

Zeichnung: urian

Richerts Verschlag ist neun Quadratmeter groß und überreich möbliert mit Tisch, Bett, Schrank, Stuhl und einem Waschbecken, das unter dem Spiegel zwischen Lichtschlitz und Heizkörper hängt.

Decke und Wände sind mit abwaschbarer Farbe in Schwimmbadtürkis bestrichen. Das unaufhörliche Rauschen der armdicken Abwasserröhren, die in den Ecken zur Decke aufsteigen und sich oben verzweigen, nährt das Gefühl, unter Wasser zu sein, ertrunken am Hafen. Im Winter versagen die Eingeweide des Gebäudes tagelang ganz.

Die Hure schiebt ihren Freier zur Flurtür, er brummt etwas, sie hüstelt. „Also, bis nächsten Freitag“, ruft sie ihm nach, er stolpert die schmale Stiege hinunter, stößt an den zertrümmerten Flipperautomaten, der dort im Dunkel liegt, und flucht.

Zeichnung: urian

Im Hof klappert das Faktotum des Hauswirts selbstvergessen mit dem Deckel der Mülltonne. Es wartet den Freier ab, um ihn anzusprechen. Der Dialog dringt nicht bis zu Richert durch, weil ein anderer Zelleninsasse plötzlich anfängt, um sein bisschen Existenz zu heulen.

Unvermeidliches Faktotum. Eben noch öffnet und schließt es mit Andacht den Deckel der Mülltonne, zerstößt im Takt der Schlagermusik aus der Kneipe im Erdgeschoss Einwegflaschen, Polizeisirenen singen dazu, Huren trillern, dann schlurft es schon durch den Korridor, den Richert für leer gehalten hat, und steht plötzlich im Finstern vor ihm.

Sein Gesicht kennt Richert nur als Schliere in den Augenwinkeln beim stummen Vorüberhasten. Ruft es angetrunken hinter ihm her, reagiert er nicht.

Nur zwei Mal hat er gezögert, als es ihn ansprach, beide Male mit einer Todesnachricht. Den Abtransport des heroinsüchtigen Punk, von dem Richert nicht wusste, ob Mädchen oder Knabe, und der sich durch dröhnende Bässe in der Nacht und kleine Schmerzensschreie bemerkbar gemacht hatte, beobachtete er selbst im Fenster zum Hof.

Zu dem anderen Nachbarn, der sich vor eine S-Bahn geworfen haben soll, kann Richert sich keine Stimme vorstellen. Er muss hinter der Biegung des Korridors gewohnt haben, von wo kein Laut, der nicht im Hofgeviert reflektiert wird, Richerts grüne Zelle erreicht.

Zeichnung: urian

Während in der Kaffeemaschine das erste Gift des Tages gurgelt, wäscht Richert sich über dem Becken. Vormittags duscht er nie – zu viel Verkehr auf dem Weg zum Bad und zurück. Und die Hure wird nach jedem Freier an der Tür rütteln.

Er schlürft aus der Tasse, als erwarte er einen Stromschlag. Immerhin spült der heiße Saft den Putzlappengeschmack weg. Plötzlich donnert es im Haus, der schmutziggrüne Teppichboden unter seinen bloßen Füßen schwingt nach davon. Weiter nichts, nur hat der Schreck sei Herz gewürgt.

Gleich darauf Pochen an der Zellentür. Richert erschrickt und lauscht angestrengt.

Zeichnung: urian

Oft schlägt man gegen seine Tür: ein Betrunkener, der sich im Stockwerk geirrt hat; ein Freier, der den Ausgang sucht; Besuch für Nachbarn, der an der erstbesten Tür klopft, um nach dem Weg zu fragen; samstags randalierende Fußballfans, die vor der Polizei in den Hof und schließlich ins Haus fliehen und Besucher markieren, wenn die Polizei ihnen folgt; zuletzt die Polizei selbst um sechs Uhr früh, zwei Drogenfahnder in Zivil, die Richert auszuhorchen versuchten, nachdem sie anmerkten, dass er „ganz ordentlich“ aussehe, als überrasche es sie.

Das Faktotum tritt manchmal aus Wut gegen die Tür, wenn es lange Selbstgespräche im Korridor führen muss, weil außer Richert niemand da ist.

Zeichnung: urian

Ich schließe meine Zelle selbst ab, denkt er, wenn er die Tür versperrt. Wer klopft, probiert in der Regel auch gleich die Klinke. Wird angeklopft, stellt er sich tot. Die meisten geben bald auf. Nur einmal hat er die Tür einen Spalt geöffnet, als das Trommeln nicht enden wollte. Draußen stand ein Betrunkener, sah das Bett und wollte sich hinlegen. Seine Hand packte die Türkante, und als kein Wort half, drückte Richert zu, bis es den Nachbarn zu viel wurde und sie den Störenfried mit einer Fluchsalve die Stiege hinunterwarfen.

Richert rührt sich nicht. Lauert draußen das Faktotum, um Lebenslaute aufzusaugen? Geht doch nicht an, dass einer von den Drogensüchtigen in seinem Loch krepiert und stinkt. Oder sich heimlich aus dem Staub macht und die Matratze mitgehen lässt. Richert hört ein schmieriges Schaben wie von Schuhen auf Linoleum.

Er steht auf und schleicht zur Tür. Er legt ein Ohr an das Holz. Er vermeint, ein Atmen zu hören. Aber beim steten Rauschen der Röhren an der Zellendecke ist so ein feines, vereinzeltes Geräusch kaum zu unterscheiden.

Dann, er glaubt schon, sich getäuscht zu haben, pocht es erneut, direkt an seinem Ohr. Er schwankt und stößt dabei an die Bettkante. Das Geräusch des Aufpralls verrät ihn.

„Aufmachen! Ich weiß, dass Sie da drin sind!“ Eine dröhnende Männerstimme. Unerbittlich. Einschüchternd.

Zeichnung: urian

Richert schluckt und räuspert sich, bevor er antwortet. „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

„Polizei! Aufmachen!“

Richert springt zum Schreibtisch. Er nimmt die Filmdose mit dem Cannabis-Brocken, öffnet das Fenster und wirft sie auf das angrenzende Teerpappendach, von wo sie in die Dachrinne rollt. Diesen Vorgang hat er sich unzählige Male ausgemalt, seit er so unvorsichtig war, den Drogenfahndern zu öffnen. Es wird nicht leicht sein, die Dose aus der Dachrinne wieder hervorzuholen.

„Sofort aufmachen!“

Richert ist jetzt etwas erleichtert. Er dreht den Schlüssel und zieht die Tür einen Spaltbreit auf.

Zeichnung: urian

Die Tür knallt gegen seinen Kopf, Richert taumelt zurück und fällt hin. Um ein Haar wäre er mit dem Hinterkopf gegen den Schreibtisch gefallen.

Wie ein Polizist sieht der Mann nicht aus, der die Kammer betritt und sich über Richert aufbaut. Uniform trägt er sowieso nicht, aber anders als die Zivilfahnder, die Richert kennt, keine Jeans und Turnschuhe, sondern Krawatte, gestreiftes Sakko und Weste, dazu Lederschuhe, die teuer aussehen. Gutbürgerlich wirkt er, wie ein Geschäftsmann.

Bevor Richert sich von seiner Benommenheit erholt hat, tritt der Fremde mit dem Fuß zu. Er trifft den Oberschenkel, hat aber eine andere Stelle anvisiert. Instinktiv krümmt Richert sich zusammen, weniger aus Schmerz, als um die betreffende Stelle zu schützen. Schweigend tritt der Eindringling ein zweites Mal zu und trifft die Niere.

Richert schreit auf. Ächzend setzt er zu einer Beschimpfung an. Ein erneuter Tritt, diesmal an die Schulter. Tränen steigen Richert in die Augen, er jammert unartikuliert.

„Was wollen Sie?“, fragt er, aber es klingt wie ein kümmerliches Grunzen.

Der andere tritt wieder zu; Richert spürt schon nicht mehr, wohin.

„Ich mach dich fertig!“, brüllt der Angreifer.

Richert verliert das Bewusstsein. Ein Irrtum, ist das Letzte, was er denken kann.

Zeichnung: urian

Die Tür zu Richerts Kammer steht offen.

„Schau mal, da liegt einer“, sagt der Freier.

„Und wenn schon“, erwidert die Hure. „Komm weiter!“

Eine Stunde nach dem Überfall schlurft das Faktotum durch den Korridor. Es starrt Richert in seinem Blut an. Schließlich klopft es bei den nächsten Nachbarn. Wieder einmal hat es eine wichtige Geschichte zu erzählen.

Die Nachbarn wimmeln es rasch ab. Es nimmt sich den nächsten Zelleninsassen vor und klappert noch ein paar Türen ab, ehe einer der Bewohner neugierig wird und ihm zu Richerts Zimmer folgt. Endlich wird die Polizei benachrichtigt.

Die Streifenbeamten alarmieren den Notarzt, der nur mehr Richerts Ableben feststellen kann. Ab und zu schaut ein Bewohner in den Korridor, um sich zu vergewissern, dass der Aufwand ihn nichts angeht.

Zeichnung: urian

Die Kriminalpolizisten machen nicht viel Aufhebens von dem Fall. Sie werfen einen knappen Blick auf die Leiche. Sie fertigen Lichtbilder an, verzichten aber auf die Sicherung von Fingerspuren. Das Faktotum erzählt ungefragt Geschichten, die sie überhören. Sie klopfen bei Nachbarn, die nichts bezeugen können.

„Eine tote Ratte mehr“, bilanziert der Ermittlungsleiter und wendet sich ab.

aus: Waterkant in Mörderhand. Kriminalgeschichten aus Hamburg, Hamburg 1999
© Uwe Ruprecht