Über wenige Themen wird ähnlich vehement ohne Sachverstand gestritten wie über Kriminalität. Die wenigsten haben Erfahrung mit Verbrechen, ob als Opfer oder Täter. Wem mal die Geldbörse gestohlen wurde, weiß deshalb nicht über Wirtschaftskriminalität Bescheid oder versteht mehr von Vergewaltigung.
Wer sich auskennt, redet allemal bedächtiger als die Mehrheit. Was dieser wie Kenntnisse vorkommen sind die Abziehbilder der Medien: die Stereotypen in den Berichten von Zeitungen, Radio und TV und die Fiktionen von Romanen und Filmen.
Täglich werden im deutschsprachigen Fernsehen mehrere Morde verübt – in Wirklichkeit zur gleichen Zeit vielleicht keiner. Die deutsche Polizei arbeitet nicht wie die in Hollywood, und das hiesige Rechtssystem ist ein anderes als im Gerichtsthriller aus UK oder USA.
Abstrakt mag das allen klar sein. Aber die wenigsten könnten die Unterschiede konkret bezeichnen. Bestenfalls orientieren sie sich an ihrem Wissen über die Differenzen zwischen Tatort-Kommissaren und FBI-Agenten, zwischen Barbara Salesch und Law and Order.
Ich vermeide Diskussionen über Kriminalität, außer mit Polizisten und Juristen (Kriminologen oder Kriminalhistoriker sind so selten, dass sie nicht zählen). Es ist fruchtlos, mit Blinden über Farben zu streiten. Und in Streit mündet ein Gespräch über Verbrechen mit den Ahnungslosen unweigerlich, weil sie sich auf diesem Gebiet besonders gut auszukennen glauben und immun sind gegen jede Belehrung. Gefühle und Glaubenssätze stechen Wissen und Erfahrung aus.
„Abends um zehn kann man nicht mehr auf die Straße“, sagt die Dame, die seit ihrer Jugend nicht mehr um die Zeit vor der Tür war, oder der Autofahrer, der außer mit Hund nie zu Fuß unterwegs ist und keines der in den Medien verrufenen Viertel je betreten hat.
Aus der Kluft zwischen Wirklichkeit und Allgemeinwissen versucht die politische Klasse seit je Kapital zu schlagen. Mit dem Begriff der „gefühlten Sicherheit“ hat sie sich schließlich vor einigen Jahren (nach dem Vorbild des „gefühlten Wetters“) ein Universalwerkzeug geschaffen, das eine ihr nützliche Angst schamlos auch dort erzeugt, wo deren Fiktionalität bereits bewiesen ist.
Routine der Fake-News-Fabrikation ist es, dass Politiker anlässlich irgendeiner Straftat, von der sie in der Regel nicht mehr wissen als ihr Publikum, nach Gesetzesverschärfungen rufen, als berühre das Umschreiben eines Paragrafen irgendeine Realität.
CDU und SPD, die das Gespenst beschworen haben, werden es nicht mehr los, nachdem es in PEgIdA und AfD Gestalt angenommen hat. Soeben ergänzt die Partei der „gefühlten“ Tatsachen ihr Schauermärchen von einem Deutschland unter dem Bann des Bösen durch eine zeitgemäße Spielerei zur Meinungsmanipulation.
„AfD stellt App für verunsicherte Bürger vor“ titelt eine Zeitung über eine „Werbeveranstaltung für eine App, mit der besorgte Bürger Straftaten melden und sich gegenseitig warnen sollen […] ‚SafeMyplace‘ solle zeigen, wie gefährlich es draußen wirklich sei – und sogenannte ‚No-Go-Areas‘ sichtbar machen“. Der AfD-Vorstand „stilisierte das zu einer Art Tabubruch: Die App werde ‚Politik und Polizeiführung nicht besonders begeistern‘.“
Alsdann wird die Leserschaft mit Spekulationen über Partei-Interna versorgt. Was mich interessiert hätte, erfahre ich nicht: wie die App funktioniert.
Also habe ich sie mir heruntergeladen. Sie zeigt mir eine Landkarte mit meinem angeblichen Standort. Tatsächlich befinde ich mich mehrere hundert Meter entfernt. Eine Option zur Korrektur ist anscheinend nicht vorgesehen.
Ich kann einen Button „Notruf“ drücken. Was ich nicht probiere, falls sich dahinter die „110“ verbirgt. Ist bekanntlich strafbar, sie grundlos zu wählen.
Außerdem kann ich einen „Vorfall“ melden. Was ich auch nicht tue, und so nicht erfahre, was es mir oder sonst wem nutzen soll, es mit dieser App zu tun.
Vom Produkt wie von der Presse verlassen, kann ich nur mutmaßen, was der Sinn des Unternehmens ist. Außer Geld verdienen natürlich. Die Probezeit für die Nutzung der App läuft nach zehn Tagen ab. Dann heißt es „Kaufen“.
Was es kostet, erfahre ich erst, wenn ich den Button drücke. Habe ich auch unterlassen und die App umgehend deinstalliert. Ich habe auch nicht recherchiert, ob persönliche Verbindungen zwischen der App-Firma und AfD-Mitgliedern bestehen.
Als Anzeige zu der Map mit meinem Standort erscheint das Wort „Kriminalität“ und eine Folge von kleinen Bomben. Dass die nur in Umrissen angezeigt werden, soll wohl bedeuten: keine Gefahr, keine „No-Go-Area“.
Erhöht das mein Sicherheitsgefühl – oder zeigt es den leeren Datensatz zu dieser Stelle an, der sich erst auffüllen soll durch Meldungen wie die von mir unterlassene?
Gibt es überhaupt einen Datensatz und worauf beruht er? Hat die AfD es bei der App-Präsentation erzählt, und die zitierte Zeitung nur unterlassen, es zu wiederholen? Sollte mir der App-Verkäufer nicht darüber ungefragt Auskunft geben, bevor ich ihm Geld zukommen lasse? Der verliert in seinem Maschinchen kein überflüssiges Wort. Versteht sich alles von selbst.
Komische Geschäfte lassen sich im Internet mit Partei- und Zeitungswerbung machen. Paradiesische Zeiten für Bauernfänger. Betrug ist übrigens auch Kriminalität, Frau Petry.
Mein tatsächlicher Standort ist nahe der Polizeiwache. Der Map der App würde das ein Ortsunkundiger nicht entnehmen können.
Hätte ich nicht doch Vorfälle melden sollen, um zu verfolgen, ob und wie ihre Wahrhaftigkeit überprüft wird? Oder um zu sehen, wie nach einer Handvoll fiktiver Meldungen aus dem Platz vor der Polizeiwache eine „No-Go-Area“ entsteht und damit Wahlkampfmaterial für die AfD liefert?
Ganz zu schweigen davon, was mir die Häufung von Bomben zeigen könnte, wenn sie auf verlässlichen Daten beruhen würde. Dass hier oder dort gern eingebrochen wird, tangiert meine Sicherheit als Passant nicht. Und das Bomben dieser Art in den Vierteln öfter gelegt werden, in denen die Reichen wohnen – wer braucht dazu eine App?
Bomben als Symbol für Verbrechen; die Ausnahme Terror auf Alltagskriminalität angewendet – daran zeigt sich, wie skrupellos mit den Gefühlen der hoch verehrten Wählerschaft operiert wird. Die Angst, zu deren Beseitigung man angeblich antritt, wird systematisch erzeugt. Die Krise, aus der man retten will, wird schwärzer gemalt, als sie ist. Nebenbei: das war auch Hitlers Masche.
Die App ist wie die AfD und das Gros des Geredes über Kriminalität: ein Schwindel. Wird genug Einfältige geben, die darauf hereinfallen, um ein paar Euro einzustreichen. Die AfD hatte ihre Pressekonferenz, und die Berufsschreiber konnten was kolportieren. Soweit sind schon mal alle Beteiligten an dem Bluff zufrieden.
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